In seinem Roman „Auf dem Nullmeridian“ erzählt Shady Lewis die Geschichte eines namenlosen Ich-Erzählers, der als koptischer Christ in Ägypten geboren wurde und nun in einer Einwanderungsbehörde in London arbeitet. Oftmals stößt er dabei an die Grenzen des Systems und kann selbst als Mensch mit eigener Einwanderungsgeschichte vielen seiner Antragssteller*inne nicht helfen. Der Autor rückt dabei klug und eindrucksvoll Entrechtete in den Mittelpunkt und verschafft ihnen die Aufmerksamkeit, die ihnen oftmals genommen wurde und sie zu der anonymen Masse unserer öffentlichen und politischen Wahrnehmung werden lässt.
Auf dem Nullmeridian
Werbung, da Rezensionsexemplar
„Sie bestreiten die Tatsache, dass ich kein Muslim bin, nur deshalb, weil es ihre Vorstellung von der Ordnung in der Welt durcheinanderbringt. Ich nehme es ihnen nicht übel, denn die Einteilung der Menschheit in Kategorien hat etwas wahrhaft Geniales, denn jeder, ganz unabhängig von seiner Bildung, kann sie mühelos verstehen. Klare Einteilungen mit klaren Benennungen sind wichtig für ein funktionierendes Leben, und das sollte man nicht über den Haufen werfen, nur um einer einzigen Ausnahme wie mir, oder auch zehn Millionen wir mir, gerecht zu werden. Deshalb können wir nur annehmen, dass die Leute es nicht so meinen.
Auf dem Nullmeridian, Seite 121
Darum geht’s in Auf dem Nullmeridian
In seinem autobiografischen Roman „Auf dem Nullmeridian“ nimmt uns Shady Lewis mit auf die andere Seite des Schreibtischs und zeigt auf, wie schwer es Menschen haben können, die aufs starre englische Sozialsystem angewiesen sind, welches wenig Spielraum für individuelle Schicksale bereit hält. Gleichermaßen sind die Beamt*innen, auf die die Antragsstellenden treffen, keine Engel und machen sich ihren Arbeitsalltag, teils aus Resignation, teils aus Bequemlichkeit, leicht. Der namenslose Ich-Erzähler des Romans führt ein einfaches Leben, nicht unweit des Nullmeridians in Greenwich. Er ist aus Kairo nach London gekommen und in seinem Heimatland ist die Familie stolz auf ihn, hat er es doch zu etwas gebracht.
Was sie nicht wissen, er hadert täglich mit seinem Beruf, der auf Grund von Sparmaßnahmen, bürokratischer Willkür, Vorurteilen und Rassismus geprägt ist. Sein eintöniger Alltag wird dadurch unterbrochen, dass er von seinem Freund Aiman aus Kairo angerufen wird mit der Bitte, einen jungen Mann aus Syrien zu bestatten. Eine rasante und bisweilen skurrile Geschichte nimmt ihren Lauf.
Shady Lewis ist selbst als koptischer Christ in Ägypten geboren und 2006 als Einwanderer nach England gekommen. Dort hat er mehr als ein Jahrzehnt im Sozialdienst gearbeitet und verarbeitet nun mit „Auf dem Nullmeridian“ seine Erfahrungen. Seine verdichtete Erzählung auf schlanken 224 Seiten mutet dabei wie eine Kurzgeschichte an und wartet mit äußerst klugen Gedanken auf. So arbeitet Shady Lewis nicht nur heraus, wie willkürlich der Nullmeridian gezogen ist, sondern zieht auch Analogien zu seinem eigenen Leben, wie auch zu dem der Antragsstellenden. Viele seiner interessanten Überlegungen verpackt der Autor von „Auf dem Nullmeridian“ in ironische Sätze, wie diesen hier:
„Angesichts der Verwirrung, die die englische Sprache in die Weltgeografie gebracht hat, ist es also kaum verwunderlich, wenn eine weiße Moschee als weiße oder auch grüne Kapelle benannt wird, dass England als Land des Tees gilt oder dass indisches Kushari zur ägyptischen Nationalspeise wurde.“ (Auf dem Nullmeridian, Seite 104)
Mir hat „Auf dem Nullmeridian“ äußerst gut gefallen. Es ist ein anregender, nachdenklich stimmender Roman, der viel Wahres in sich trägt, einen Perspektivwechsel bewirkt, aber auch nicht an Ironie, Humor und absurden Situationen vermissen lässt. Kurzum ein echter Pageturner, der ein fabelhafter Begleiter für ein regnerischer Sonntag auf der Couch, genauso wie ein Strandtag im Sommerurlaub ist. Und ich verspreche dir, über einige Sätze, wie diesen zum Beispiel: „Genussmittel beruhen auf Ideen, und nichts ist gewinnbringender, als Ideen zu verkaufen (Seite 140).“, wirst du noch lange nachdenken.
Shady Lewis
Auf dem Nullmeridian
Übersetzung durch Günther Orth
Gebunden mit Schutzumschlag
224 Seiten | ISBN: 978-3455015720
24€ [D] über Amazon [Affiliate Link]
Disclaimer: Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Verlag zum Stöbern und Rezensieren zur Verfügung gestellt. Dafür erstmal ein herzliches Dankeschön. Wie immer gilt aber, das Geschriebene spiegelt meine eigene Meinung wieder. Sollte mir etwas nicht gefallen, sage ich das auch. Ansonsten suche ich mir selber aus, welches Buch ich rezensieren möchte. Das heißt du wirst auf Lieschenradieschen reist nur authentische Leseberichte finden, die meinen eigenen Interessen entsprechen.