Im autofiktionalen Roman „Kassandra in Mogadischu“ schreibt die Autorin Igiaba Scego lange Briefe an ihre Nichte. Sie sind angesiedelt zwischen Mogadischu und Rom, der Vergangenheit und dem Heute, zwischen Müttern und Tanten und dem Jirro, dem Schmerz der Diaspora, und kleinen Alltagsfreuden. „Kassandra in Mogadischu“ ist eine harte Geschichte und sprüht gleichzeitig von Liebe und Stolz. Für mich eine Entdeckungen des Jahres und Pflichtlektüre für alle, die sich für Kolonialgeschichte interessieren und die schmerzhaften Verflechtungen zwischen Afrika und Europa.
Kassandra in Mogadischu von Igiaba Scego
Jeder unserer Verwandten hat den Jirro. Jeder Somlier und jede Somalierin. Wie ich zu Beginn des Briefes schon andeutete, Soraya: Es ist leicht, unter dem Jirro einzuknicken. Sich mit körperlichem Leiden abzufinden, weil das Seelenleid uns nie in Ruhe lässt. Doch ich habe beschlossen, dass es sich lohnt, nicht klein beizugeben.
– Kassandra in Mogadischu, Seite 310
Darum geht’s in „Kassandra in Mogadischu“
Wie viel weißt du über die Geschichte Somalis? Nach der Lektüre von „Kassandra in Mogadischu“ auf jeden Fall eine ganze Menge mehr als vorher. In diesem autofiktionalen Roman schreibt Scego, die Autorin des Buchs, aus Rom an ihre Nichte in Kanada. In ihren langen Briefen erzählt sie von ihrer Familiengeschichte. Wie ihre Eltern in Somalia aufgewachsen sind und welche Hoffnung sie an die junge Nation nach der Kolonialzeit hatten. Sie schreibt über den Ausbruch des Bürgerkrieges, wie Scego ihn als Teenager in Rom erlebt, und wie der Krieg ihre Familie auseinanderriss und bis heute nachhallt.
Obwohl „Kassandra in Mogadischu“ keine leichte Lektüre ist, spendet sie gleichzeitig auch Hoffnung. Hoffnung für die nachfolgende Generation, die hoffentlich den Jirro, den Schmerz der Diaspora, hinter sich lassen kann und wieder eine gemeinsame Sprache mit den in aller Welt verstreuten Verwandten findet. Ich habe ein paar Seiten gebraucht, um mich in die Briefform einzulesen. Allerdings ist es auch kein klassischer Briefroman. Vielmehr ist jeder Brief ein Fenster in das Leben der Autorin und ihrer Familie und nach und nach setzt sich so ein ganzes Bild zusammen. Igiaba Scego beweist damit eine große Erzählkunst, welche trotz all der Schrecken des Krieges auch Freude bereitet zu lesen.
Die Autorin erzeugt mit dieser Erzählweise ein eindrückliches Portrait der jüngeren somalischen Geschichte, welches mir das Land so nah wie nichts anderes bisher gebracht hat. Fast meint man, die im Buch beschriebenen Schauplätze mit allen Sinnen selbst erlebt zu haben und den Schmerz der Familie zumindest an der Oberfläche ebenfalls spüren zu können.
Für mich ist „Kassandra in Mogadischu“ definitiv eine der größten Überraschungen in diesem Jahr und wird sicherlich noch lange nachhallen. Ein eindrückliches, bewegendes und vor allem unverzichtbares Buch. Das Buch wurde nicht ohne Grund von den Kritiker*innen in Italien gefeiert und ich hoffe sehr, dass es möglichst viele interessierte Leser*innen anspricht. Wir können gar nicht genug über die historischen Verflechtungen zwischen Afrika und Europa lesen, denn die Nachwehen spüren wir bis heute und tragen eine kollektive Verantwortung.
Wenn du dich darüber hinaus mit Italiens Kolonialgeschichte auseinandersetzen möchtest, kann ich „Alle, außer mir“ von Francesca Melandri sehr empfehlen. In diesem Roman geht es um Äthiopien, eine kurze, lange Zeit, die viele Spuren hinterlassen hat.
Igiaba Scego
Kassandra in Mogadischu
Übersetzung durch Verena von Koskull
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag
416 Seiten | ISBN: 978-3103976199
26€ [D] über Amazon [Affiliate Link]
Disclaimer: Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Autor zum Stöbern und Rezensieren zur Verfügung gestellt. Dafür erstmal ein herzliches Dankeschön. Wie immer gilt aber, das Geschriebene spiegelt meine eigene Meinung wieder. Sollte mir etwas nicht gefallen, sage ich das auch. Ansonsten suche ich mir selber aus, welches Buch ich rezensieren möchte. Das heißt du wirst auf Lieschenradieschen reist nur authentische Leseberichte finden, die meinen eigenen Interessen entsprechen.