Nachleben – der vergessene Kampf Ostafrikas im ersten Weltkrieg

Eine Hand hält den Roman Nachleben von Abdulrazak Gurnah gegen eine hellblaue Hand

„Nachleben“ ist der neuste Roman des Literaturnobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah und nun in der deutschen Übersetzung im Penguin Verlag erschienen. Wir auch in seinen anderen Werken zuvor erzählt der Autor von Welten, die im Wandel sind, den Folgen des Kolonialismus, menschliche Schicksale und Flucht- und Migrationsbewegungen. Dieses Mal nimmt er uns zu den Schrecken des ersten Weltkrieges, die in Ostafrika nicht minder gewütet haben und doch in unserer Geschichtserzählung zu oft vergessen werden.

Nachleben
Abdulrazak Gurnah

Werbung, da Rezensionsexemplar

Khalifa sagte: „Willst du wirklich diese ganzen alten Geschichten hören? Du erzählst mir doch auch nichts von dir. Stattdessen fragst du mich aus, und ich kann mich nicht wehren. Das ist der Fluch des Alters: Man kann den Mund einfach nicht halten.“
„Ich würde wirklich gerne etwas über den alten Piraten hören“, sagte Hamza grinsend. Er wusste ja, dass Khalifa nicht widerstehen konnte und ihm alles erzählen würde.

Nachleben, Seite 244

Darum gehts in Nachleben

Wir befinden uns in einer Welt des Wandels. Europäische Nationen wie Deutschland und Großbritannien strömen auf den afrikanischen Kontinent und verändern den Lauf der Dinge. Sie bringen Konflikte mit, die es zuvor nicht gab und verändern die soziale Ordnung. In diese Veränderungen wird Ilyas geboren. Mit nur elf Jahren, rekrutieren ihn die sogenannte Schutztruppe der deutschen unter Zwang. Er muss sein zu Hause verlassen, flieht und kommt schließlich in einer Mission unter, wo er lesen und schreiben lernt.

Gleichzeitig lebt seine Schwester Afiya unter ärmlichen Bedingungen bei Bekannten der Familie, denn ihre Eltern sind an Krankheiten verstorben. Sie muss zahlreiche Hausarbeiten übernehmen und wird von der Familie als billige Arbeitskraft missbraucht. Als ihr Bruder nach Jahren der Trennung plötzlich vor der Tür steht, kann sie es kaum fassen. Gemeinsam ziehen die beiden an die Küste und erleben ein Jahr voller Freude, Liebe und Lernen.

Als der erste Weltkrieg bedrohlich am Himmel aufzieht, schließt sich Ilyas völlig unerwartet erneut der Schutztruppe an. Zur selben Zeit verpflichtet sich der junge Hamza. Beide sind nichtsahnend, was sie in den kommenden Jahren an Grausamkeiten im Krieg erwartet. Während der eine verschollen bleibt, führt es den anderen in die Heimstätte von Afiya und die beiden verlieben sich ineinander. Nur die klaffende Lücke, entstanden durch die Abwesenheit des Bruders, kann Afiya nicht schließen. Sie machen sich auf die Suche nach Ilyas, während ein weiterer Weltkrieg seine Schatten wirft.

Ich schätze Abdulrazak Gurnah als Autor sehr und freue mich, das er endlich auch Aufmerksamkeit in Deutschland erhält. Unsere Kolonialgeschichte ist zu wenig aufgearbeitet und häufig aus der Sicht der Kolonisierenden erzählt. Mit „Nachleben“ hat Abdulrazak Gurnah ein weiteres Gegenstück zur „single-story“ geschaffen und wichtige Perspektiven aufgemacht. Mich hat am Roman insbesondere fasziniert zu sehen, aus welchen unterschiedlichen Motivationen heraus sich Menschen der deutschen Kolonialtruppe, also den Unterdrückern, angeschlossen haben und welche Gräueln in diesem Teil der Welt der Krieg angerichtet hat. Darüber wird immer noch zu wenig gesprochen!

Darüber hinaus versteht es Abdulrazak Gurnah historische Ereignisse und reale Biographien mit Fiktion und den Finessen eines wahren Geschichtenerzählers zu Papier zu bringen. Ich kann dir sagen, ein Roman von ihm hält bei mir nur kurz, so schnell habe ich die Bücher ausgelesen. Und ohne zu viel zu verraten, beim großen Finale, der Suche nach Ilyas, bleibt einem der Atem stocken. Zu interessant und gut werden die Verknüpfungen zwischen Nazi Deutschland und Ostafrika aufgegriffen. Das regt zum Nachdenken und weiterforschen an!

Was mich einzig an „Nachleben“ gestört hat ist, dass die sehr dichte Erzählung zum Ende hin eher an ein Aufzählen von Ereignissen erinnert hat. Ganz so, als müsse der Autor das Buch zu Ende bringen. Gleichermaßen habe ich mich gefragt, ob es sich dabei auch um ein Stück autobiografisches Erzählen handelt?

Alles in allem ist „Nachleben“ ein sehr spannender Roman, den ich genauso wie die anderen Bücher von Abdulrazak Gurnah, „Das verlorene Paradies“ und „Ferne Gestade“, empfehlen kann. Es braucht vielleicht einen Moment, um in den Erzählstil reinzukommen, aber dann will man die Romane nicht mehr aus der Hand legen. Noch schöner wird es nur, weil die Ausgaben vom Penguin Verlag auch so schön gestaltet sind und sich gut im Buchregal machen. Wer liebt es nicht?

NACHLEBEN

Nachleben
Abdulrazak Gurnah

Übersetzung durch Eva Bonné
Gebunden mit Schutzumschlag
384 Seiten | ISBN: 978-3328602590
26€ [D] über Amazon [Affiliate Link]


Disclaimer: Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Verlag zum Rezensieren zur Verfügung gestellt. Dafür erstmal ein herzliches Dankeschön. Wie immer gilt aber, das Geschriebene spiegelt meine eigene Meinung wieder. Sollte mir etwas nicht gefallen, sage ich das auch. Ansonsten suche ich mir selber aus, welches Buch ich rezensieren möchte. Das heißt du wirst auf Lieschenradieschen nur authentische Leseberichte finden, die meinen eigenen Interessen entsprechen.

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