Die Abtrünnigen – Über Liebe, wo sie nicht existieren dürfte

Eine linke Hand hält den Roman Die Abtrünnigen von Abdulrazak Gurnah gegen eine hellblaue Wand.

Mit „Die Abtrünnigen“ ist eine weitere deutsche Neuübersetzung des sansibarischen Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah erschienen. Wie in den meisten seiner Romanen widmet er sich auch in diesem Buch den kolonialen Verflechtungen seiner Heimat, der Gefühlswelt junger Menschen, Erzählungen mehrerer Generationen und unterschiedlichen Migrationsbewegungen. „Die Abtrünnigen“ ist ein berührender Roman über Liebe, die eigentlich nicht existieren dürfte und Hoffnungen auf ein besseres Leben, die sich nicht immer erfüllen.

Die Abtrünnigen

Werbung, da Rezensionsexemplar

(…) indem wir uns damit einverstanden erklären, die Menschen in Schwarze und Weiße zu unterscheiden, erklären wir uns auch damit einverstanden, die Vielfalt der Möglichkeiten einzuschränken und die Verlogenheiten zu akzeptieren, die Jahrhunderte hindurch den primitiven Hunger nach Macht und die pathologische Sucht nach Selbstbestätigung genährt haben – und es weiter tun werden.

Die Abtrünnigen, Seite 330

Darum geht’s in Die Abtrünnigen

Zur Zeit des britischen Kolonialismus in Ostafrika wird der Brite Martin ausgeraubt, verirrt sich und wird halb tot in einer nicht näher benannten Küstenstadt vom Krämer Hassanali und seiner Familie gefunden. Auch wenn die Begegnung nur von kurzer Dauer ist und Martin noch im Delirium beim einzigen anderen Briten in der Stadt aufgenommen wird, sucht der junge Mann nach seiner Genesung die Nähe der Familie Hassanali. Das undenkbare geschieht, denn Hassanalis Schwester Rehana und Martin fühlen sich zueinander hingezogen und leben für einige Jahre miteinander. Aus dieser Beziehung entsteht ein Kind, dessen skandalöse Vergangenheit über die Generationen hinaus für Aufregung sorgt.

Als sich einige Jahrzehnte später Amin in die ältere Jamila verliebt, droht ein weiterer Skandal die Stadt in Aufregung zu versetzen. Doch da sind auch noch die anderen beiden Geschwister, Rashid und Farida, die ihre ganz eigene Sicht auf die Dinge haben. Je älter die drei werden, desto weiter entfernen sie sich voneinander und bleiben doch geschwisterlich verbunden. „Die Abrünnigen“ ist ein interessanter Roman über das Leben von Menschen, die Bewertungen von außen über sich ergehen lassen müssen und immer zum Spielball von Geopolitik werden.

„Die Abtrünnigen“ ist mittlerweile der vierte Roman von Abdulrazak Gurnah, den ich gelesen habe (die anderen drei sind weiter unten verlinkt) und ich finde es erstaunlich, wie unterschiedlich seine Werke sind. Einige konnte ich kaum aus der Hand legen, andere fand ich stellenweise fad. „Die Abtrünnigen“ liegt irgendwo dazwischen. Zum Teil ergeht sich Gurnah in langen Beschreibungen, die einerseits langatmig sind, andererseits aber auch ganz maßgeblich zur Atmosphäre des Romans beitragen. Auf der einen Seite lässt er Frauen kaum zu Wort kommen, denn die Erzählungen geschehen nur durch Männer, andererseits zeichnet er dennoch komplexe Bilder von Protagonistinnen, die mit all ihren Ambivalenz und äußeren, sowie inneren Zwängen dargestellt werden.

Und dann haut Gurnah so Sätze raus wie: „Ironie ist das unversöhnliche Register des Schicksals, das uns alles im Leben heimzahlt.“ (Seite. 344) und plötzlich lohnen sich alle langatmigen Passagen, nur um in den Genuss solch einer Wahrheit zu kommen.

Vielleicht ist es auch einfach situationsabhängig, wann, wo und wie man die Romane von Gurnah liest. Gemeinsam haben sie jedoch alle, dass sie autobiografische Aspekte haben. Das macht die Werke des Autors auch so spannend. Es gibt wenig Romanen, die aus der Sicht der kolonialisierten sprechen. „Die Abtrünnigen“ geht jedoch darüber hinaus. Als Rashid in den 1950er, zum Ende des Kolonialismus auf Sansibar, in das Vereinigte Königreich immigriert, ist er dort Rassismus ausgesetzt und fühlt sich von seiner Heimat entkoppelt.

Meiner Meinung nach ist „Die Abtrünnigen“ nicht das stärkste Buch von Gurnah und zum Einstieg würde ich eher mein persönliches Highlight „Nachleben“ empfehlen. Der Roman reiht sich dennoch in das Werk des Autors ein und solltest du schon andere Bücher von ihm gelesen haben, würde ich auch dieses nicht aussparen. Es macht ist einfach interessant in die Gedankengänge des Autors einzutauchen und Ostafrikas Küste und seine reiche Historie abseits der gängigen Klischees zu entdecken.

Zu guter Letzt, wie auch bei den letzten Übersetzungen, würde ich mir eine kritischere Übersetzung von problematischen Begriffen oder eine Einordnung wünschen. Mir geht es dabei nicht darum, Worte oder Passagen zu streichen, sondern sie zu kontextualisieren. Das würde ich mir für die nächsten Neuauflagen vom Verlag Penguin Randomhouse wünschen.

Weitere Romane von Abdulrazak Gurnah

Abdulrazak Gurnah
Die Abtrünnigen

Übersetzung durch Stefanie Schaffer-de Vries
Gebunden mit Schutzumschlag
400 Seiten | ISBN: 978-3328602613
26€ [D] über Amazon [Affiliate Link]


Disclaimer: Dieses Buch wurde mir freundlicherweise vom Verlag zum Stöbern und Rezensieren zur Verfügung gestellt. Dafür erstmal ein herzliches Dankeschön. Wie immer gilt aber, das Geschriebene spiegelt meine eigene Meinung wieder. Sollte mir etwas nicht gefallen, sage ich das auch. Ansonsten suche ich mir selber aus, welches Buch ich rezensieren möchte. Das heißt du wirst auf Lieschenradieschen reist nur authentische Leseberichte finden, die meinen eigenen Interessen entsprechen.

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